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Dinge aus dem Paradies

1.JPGSeid gegrüßt all ihr Daheimgebliebenen. Und so beginne ich meine heutige Mail mit einem superschönen Zitat, das ich gefunden habe und das, wie ich finde den Nagel, vielleicht auch zur Zeit nur meinen Nagel, auf den Kopf trifft:

„Drei Dinge sind uns aus dem Paradies geblieben: die Sterne der Nacht, die Blumen des Tages und die Augen der Kinder”. Dieses Zitat ist gerade für mich zur Zeit so treffend und ich lasse es jetzt einfach mal unkommentiert (habe gerade versucht es zu kommentieren und es wieder gelöscht, weil es mir plötzlich sinnlos erschien!!)

Ich habe es, zumindest zu einem Teil, geschafft: Ich habe Rafael wieder ins sitio geholt. Gekommen sind wir zu dritt: Rafael, Felipe und ich. Geblieben sind zwei: Rafael und ich. Keiner kann sich vorstellen, wie ich die letzte Woche gekämpft habe. Am Ende war ich nur noch ein laufender Haufen. Meine Beine waren wie Pudding und meine Schulter war wie ein Klumpen Eisen an meinem Körper.

Alles fing damit an, das ich am Freitag zur Straßenarbeit gefahren bin und Rafael mir als erstes eröffnet hat,2.JPG das er nicht mit ins sitio kommen wird und Felipe auch nicht, weil sie drei Stunden am Tag arbeiten müssen. Kann ich ehrlich gesagt auch auf der einen Seite sehr gut verstehen. Denn arbeiten im sitio heißt, den ganzen Tag bei brennender Hitze Gartenarbeit verrichten für das sitio (und das nimmt bei der Größe kein Ende). Felipe und Rafael sind dreizehn Jahre alt und man könnte auf jeden Fall von Kinderarbeit sprechen, gerade wenn die beiden dafür keinen Cent erhalten. Auf der anderen Seite finde ich es eigentlich eine ganz gute Sache, daß die beiden dafür was tun müssen, um wieder aufgenommen zu werden. Das zeigt auf jeden Fall, wie stark ihr Wille ist wieder zurückzukommen. Der Straßenarbeiter von der Funcie, mit dem ich am Anfang noch alleine da war, war auch recht was empört darüber… .Ich habe dann eine geschlagene Stunde mit Rafael dort gesessen und geredet und verhandelt… ..(meine Verhandlungen mit Straßenkindern werden glaube ich von mal zu mal gewiefter… man lernt halt dazu!). Später war dann erst mal keine Zeit mehr für weitere Verhandlungen, weil dann ein anderer Straßenarbeiter mit Gitarre und Percussion dazukam und erst mal ne Runde mit den Jungs und Mädels gerappt hat. Der Typ war unfassbar: Er ist 1. ein Capoeiraman, 2. kann er singen und drittens eine ganze Batterie an Instrumenten spielen. Er kann mir meiner Bewunderung auf jeden Fall bewusst sein… .;) Der Abend auf der Strasse war dann noch super schön. Wir haben mit den Kindern fast sowas wie eine Straßenparty veranstaltet. Irgendwann hat er mich dann noch zum Sambatanzen aufgefordert, was wahrscheinlich aber eher aussah, wie eine Kuh beim Ballett tanzen… ..ich bin noch am üben… .! Und später hat der Typ von der Bar nebenan tatsächlich Tisch und Stühle für die Kinder hingestellt (eigentlich der einzige der ortsansässigen Geschäftsleute, der noch ein Herz für die Kinder hat) Und so saßen wir dann da alle zusammen, haben gesungen und getanzt und ich hab mich gefreut!! So hab ich mir Brasilien glaube ich immer vorgestellt… ..Oh yeah… Brasil, I lov ya!!!

3.JPGIch habe dann bis Mittwoch gehofft und gebangt und mir nachts die Schulter mit Schmerzgel eingeschmiert, damit ich schlafen kann… ..Am Mittwoch bin ich dann zur Strasse und Rafael hatte ganz offensichtlich schon auf mich gewartet. Wir mussten Felipe dann noch aus einem Verschlag holen, wo er gerade gepennt hat und ich hab die beiden dann eingepackt und bin los mit dem Bus ins sitio. Auch schon wieder so ein Thema für sich. Bernardo ist nach Bahia gefahren, weil er vor 2 Jahren mal eine Kampagne gestartet hat in Gesamt-Brasilien „crianças fora da rua” (Kinder weg von der Strasse) (oder so ähnlich… kann man schlecht übersetzen). Da haben sich ganz viele Institutionen zusammengeschlossen und kämpfen jetzt auf politischer Ebene. Jedenfalls war er nicht da und hat wohl auch nicht dran gedacht, das er Rafale und Felipe gesagt hatte, sie könnten an dem Mittwoch kommen. Und auch Beto wusste von nix… .Na supie… Das hieß also, daß keiner sie mit dem Kombie aus Fortaleza ins sitio bringt. Ich hab dann erst mal ganz empört gemeint, daß ich bestimmt nicht schon wieder Kohle für den Bus bezahle. Geld bezahle für Dinge, die eigentlich nicht in meine Angelegenheit gehören. Als ich dann aber am Mittwoch auf der Strasse war habe ich nur gedacht: Jetzt bloß schnell weg hier. Es macht schon ein wenig nervös, wenn da tausend Kinder auf die beiden einreden und Felipe wieder irgendeinem Mädchen am Zipfel hängt oder die Klebstoffflasche 10 cm von seiner Nase entfernt ist.

Und so bin ich dann losgestapft, wie die Entenmuttie mit ihren beiden Küken. Von einen Bus in den anderen4.JPG und am Ende schön, in der bruellenden Hitze, den Sandweg zum sitio (halbe Stunde Fußmarsch in sengender Hitze, man meint, man sei in der Wüste Gobi… .) Als sich die educadores später über mein doch etwas verfärbtes Gesicht lustig gemacht haben, habe ich gegrinst und nur gedacht: „Ihr Arschlöcher! Das nächste mal geht ihr dann los… .”

Damit war der Kampf aber noch nicht beendet und schon als ich mit den beiden im Bus zum sitio saß hatte ich so ein komisches Gefühl und habe gedacht, irgendwas ist hier nicht richtig… ..!

Schon am nächsten Tag, als ich zufällig gerade an dem arbeitenden Felipe vorbeigehe, kriege ich mit, wie er die Harke hinschmeißt und zum educador sagt, er hat kein Bock mehr und geht jetzt zurück auf die Strasse… .naja… und Rafael wollte dann NATUERLICH auch mitgehen… .der Gruppenzwang eben! Und so habe ich wieder eine geschlagene Stunde mit Rafael vorm Haus der Kleinen gesessen und mein allerletztes Pulver verschossen und war danach auch echt erstmal hin. Ich habe dann versucht mich die nächsten 2 Tage nur noch mit Rafael zu beschäftigen. Habe ihm die Gitarre gegeben, mit ihm Musik gehört, war abends im casa dos grandes, wo er jetzt untergekommen ist. Und: Es hat tatsächlich seine Wirkung getan. Felipe hat am Freitag um 14 Uhr das sitio verlassen, nachdem er Bernardo unterbreitet hat, er hat kein Bock auf Arbeiten, auf Schule, auf Hausarbeit… ..Naja, und Rafael ist tatsächlich – entgegen aller Prognosen – geblieben. Sagen wir mal: bis jetzt! Denn ich bin mir sicher, daß da noch einiges an Ãœberzeugungsarbeit zu leisten ist. Für mich ist jetzt aber erst mal fuer 9 Tage Sense mit dem Thema Rafael sonst geh ich nachher am Stock und das im wahrsten Sinne des Wortes… … São Paulo, ich komme… … gude Launääääää!!!

5.JPGJetzt mal zu meinem kleinen Liebling Eriswaldo (kurz zur Erinnerung fuer alle die es bisher noch nicht geschafft haben, sich einen Stammbaum mit all den Namen und Orten aufzuschreiben (Hallo Juli)… .wird mal Zeit!) Eriswaldo ist der Junge dem ich die Buspassage zu seiner Mutter bezahlt habe.

Ich hätte es ja nicht gedacht, aber bei dem bin ich irgendwie kleben geblieben im Kopf (und da ist er wieder, der Klebstoff… ..). Letzte Woche hat er mich bereits angerufen und wollte jetzt SOFORT von mir wissen, wann ich denn komme. Da musste ich also den Termin festsetzen für den 13. April. Und dann hat er mir noch eine Nachricht mitgegeben für seinen Freund am Siquiera-Busterminal, mit dem er immer zusammen vor dem Eingang gebettelt hat. Witzigerweise haben Claudia und ich den gestern getroffen und er hat uns erzählt, das er Sehnsucht nach Eriswaldo hat und ich ihm eine Umarmung überbringen soll und sagen soll, das er jetzt auch keine Lust mehr hat ohne ihn hier abzuhängen und in eine Einrichtung gehen wird… ..und so verschwand er dann im Dunkeln! Und uns beiden wurde ganz warm ums Herz… ..

Tja, und gestern hat mich Eriswaldo schon wieder angerufen (Natürlich immer so, das wir hier am Ende das6.JPG Telefonat bezahlen müssen! Aber es sei im verziehen… ..) und schon nach den ersten drei Worten hab ich innerlich gedacht: „oh Gott, wo ist er jetzt?… .wieder abgehauen?!“ Aber nein, er war gerade mit einem Freund unterwegs auf der Piste und wollte sich nur mal eben gemeldet haben, weil er Sehnsucht nach mir hat. Und er wollte sich nochmal absichern, das ich auch komme („Ich ruf dann am 12. abends an und frage ob alles in Ordnung ist”) und mir sagen, das er gerne eine Erinnerung an Fortaleza hätte… .Vielleicht sollte ich Klebstoff und eine leere Flasche mitnehmen… .ach nein, der war jetzt doch etwas makaber der Witz… .Ich muss vorher unbedingt noch seine Familie hier besuchen und Fotos machen, damit ich die mitnehmen kann. Tja und was jetzt mein Erinnerungsgeschenk an Fortaleza wird, das steht noch in den Sternen… .mal sehn… Dann hat er mir noch ganz stolz erzählt, wenn ich dann komme, dann könnte ich sehen wie er mit seinem Onkel arbeitet und wie er zur Schule geht. Man, man, daß das jetzt echt so schnell so gut gelaufen ist, hätte ich nieieieie erwartet. Aber, aus all den vorherigen Erfahrungen weiß ich mittlerweile: Obacht! Trotzdem freu ich mich ganz doll und bin auch ein bischen stolz auf den kleinen Mann… ..

Mit seiner Stiefmutter habe ich letzte Woche auch noch telefoniert. Die sind da auch alle ganz glücklich und die Aktion hat Wellen geschlagen. Sie haben sich jetzt auf die Suche gemacht, nach seiner älteren Schwester, die auch irgendwann mal abgehauen ist… ..ja, manchmal muss man die Welt eben nur ein bisschen aufrütteln und dann läuft alles wie von selbst… .!

Und ich kann nur sagen, alle sind glücklich, also bin ich es auch!! Hoffen wir mal, daß es auch so bleibt… ! (Ich merke gerade an meiner Schreibweise, das ich doch ein Stück weit skeptischer geworden bin… oder??)

7.JPGLetzte Woche war ich mit vier Kindern zum Videogame spielen. Das ist irgendwie schön, man macht nur eine kleine Aktion mit den Jungs und merkt an deren Reaktionen, das sie einem das nie vergessen werden. Einen Abend Videogame spielen, was ist das bei uns in Deutschland schon… ..eher sowas wie Nahrung zu sich nehmen oder aufs Klo gehen… es gehört halt einfach zum normalen Leben mit dazu. Hier aber nicht… .und schon gar nicht im sitio… Auf dem Hinweg hat uns der Schulbus auf dem Sandweg aufgepickt, der vorher die Kinder alle nach Hause gefahren hat. Und so hatten wir einen riesigen Bus ganz für uns, mit laut Forro an und Daniel und ich haben zusammen im Bus getanzt… .toll!

Für die Educadores gab es letztens eine Runde Deutschstunde von mir, im Sekretariat, mit allem was man so in Deutschland auf jeden Fall wissen muss. Dazu gehört unter anderem: „Ach so! Ja ja!” und natürlich: „Arschloch”. Mir ist auf jeden Fall ein gewisses Maß an Seriosität nicht abzusprechen… .finde ich… !

8.JPGSergio hat mir letzte Woche angeboten, ich sollte doch mal mit den eduacadores sowas wie eine Fortbildung machen. Mit meinen Erfahrungen von Deutschland, vom sitio und von der Strasse sei das nach seiner Meinung auf jeden Fall hilfreich. Das ist echt ein heikles Thema hier in Brasilien. Es gibt im Grunde keine wirklichen Theorien für die Arbeit mit Straßenkindern. Viele educadores sind gar nicht ausgebildet (bei uns im sitio nur ein einziger) und wenn sie ausgebildet sind, dann haben sie abends einmal in der Woche einen Kurs belegt. Dazu kommt, das die Vorstellung von Pädagogik die hier vorherrscht oft sehr veraltet ist. So kommt es nicht selten vor, dass in pädagogischen Einrichtungen die Kinder die unbequem werden, mit Psychopharmaka vollgestopft werden um sie ruhig zu halten, anstatt individuell mit ihnen zu arbeiten. Einer dieser Jungs, dem das wieder fahren ist, ist Rafael, ach ja und Antonio, aber dazu komme ich gleich noch.

Im sitio heißt das, daß auch die educadores manchmal Dinger bringen, die mir die Haare vom Kopf abstehen lassen. Zum Beispiel unterhalten sie sich über einen Jungen im Beisein dieses Jungen und noch im Beisein von anderen Jungen. Das gibt dann natürlich danach schönes Gefeixe on Seiten der anderen Jungs… .Oder sie stigmatisieren die Jungs, wie zum Beispiel Rafael. Da kommen dann im Beisein von anderen Jungs Kommentare wie: „Naja, dann müssen wir ja wieder aufpassen, das er uns nicht alles klaut!” (Ja, da fällt euch lieben KollegInnen von Vaja die Kinnlade runter was?). Die educadores versuchen auch leider nicht die schwierigen Jungs in die Häuser zu integrieren, sondern schließen sie noch weiter aus, durch ihre eigenen persönlichen Gefühle, die sie offenbar nicht zurückhalten können und durch ihre Kommentare. Dabei müssten sie doch eigentlich, egal was auch kommt, immer auf der Seite der Kinder sein. Es gibt 2 eduacadores bei uns, die das machen, der Rest hat von Pädagogik soviel Ahnung, wie ich vom Samba tanzen (noch!!) Das heißt für Bernardo natürlich, daß er bei nicht-ausgebildeten Kräften weniger zahlen muss… ..wobei ich ihm an dieser Stelle natürlich nichts unterstellen will… ..nein, wahrlich nicht… ..öhm!

Ich denke, ich werde auf jeden Fall mal in einen von unseren „Club der toten Dichter-Sitzungen“ einige Punkte aufgreifen und mal einflechten, wie das so bei uns gehandhabt wird. Will ja nicht dastehen, wie der Klugscheißer aus Deutschland der jetzt meint hier alle belehren zu können. Das muss ich wohl eher geschickt einbringen… mal sehen… ! Danach werde ich Bernardo dann ne Rechnung schreiben über meine Fortbildungskurse… .

Ganz im Sinne von Biggie Brother Brasil, hatten wir letzte Woche eine neue Wochenaufgabe. Wir sollten mit 9.JPGall den Jungs, die noch keine geschrieben Lebensgeschichte haben die man an potenzielle Paten verschicken kann, Interviews führen und die Geschichte schreiben (Bernardos Kommentar, wie schon damals Weihnachten, war: Jetzt müsst ihr mal richtig arbeiten, jetzt hört der Spaß auf… .! Aaahhh ja!) So haben wir uns dann dran gemacht, neben all dem was wir sonst noch so spaßiges zu tun hatten… ;)und haben mal so richtig gearbeitet… .. Ich würde euch vor allem gerne die von Antonio Filho, meinem Patenkind, erzählen und von Rafael Oliveira meinem derzeitigen Pflegefall.

„Antonio Filho (7 Jahre alt) 10.JPG

Antonio lebte mit seinen Geschwistern und seiner Mutter zusammen in einer Favela in Fortaleza. Der Vater lebt mit einer anderen Frau zusammen. Aus Frust über ihr eigenes Leben, hat die Mutter alle Kinder fast täglich misshandelt. Vor allem der kleine Antonio wird ständig von seiner Mutter geschlagen, vor allem ins Gesicht. „Manchmal hatte ich ganz zugeschwollene Augen und konnte kaum noch sehen.” Nachts weckt sie Antonio auf, in dem sie ihn an den Haaren aus dem Bett schleift um ihn dann anschließend zu verprügeln. Auch sonst schleift sie Antonio viel an den Haaren durch die Gegend und einmal überschüttet sie ihn mit heißem Wasser. Die Kinder bekommen kaum Nahrung und da die Mutter häufig nicht Zuhause ist lässt sie die Kinder bei der alten verwirrten und Alkoholkranken Großmutter. Diese erzählt Antonio immer wieder, er sei der Teufel, bis er selbst daran glaubt. Aufgrund der Misshandlungen läuft Antonio von Zuhause weg und lebt eine Zeitlang auf der Strasse. Als die Polizei ihn dort aufgreift, kann er über sich selbst nichts erzählen und wird in eine staatliche Einrichtung gebracht. Irgendwann beginnt Antonio anderen Menschen gegenüber aggressiv zu werden und keiner weiß mehr, wie man mit ihm umgehen soll. So kommt Antonio in eine psychiatrische Einrichtung, wo ihm bereits mit 5 Jahren starke Psychopharmaka wie Haldol und Holeporol über einen laengeren Zeitraum verabreicht werden. Dies ist gerade für einen kleinen Körper nur schwer zu verarbeiten. Antonio hat eine sehr geringe Selbstwertschätzung und ein starkes Gefühl der Ablehnung und des Verlassenseins, infolge seiner schlechten Behandlung.

Als Antonio Ende 2006 ins sitio vom kleinen Nazareno kommt, ist er extreme verschlossen und aggressiv wie auch autoaggressiv. Auch hier erzählt er immer wieder, daß er der Teufel sei. Nachdem sich eine Praktikantin mit einer ergotherapeutischen Ausbildung seiner annimmt, und er auch von Seiten der educadores Aufmerksamkeit und Zuwendung erhält geht es ihm stetig besser. Mittlerweile entwickelt sich Antonio zu einem aufgeweckten und fröhlichen Jungen.”

Kommentar von mir: Ich wette das mit der Praktikantin nimmt Bernardo raus, weil es ein schlechtes Licht auf seine eigenen Pädagogen wirft.!

Rafael (13 Jahre)

„Ich bin mit 8 Jahren auf die Strasse gegangen, weil mein Vater mich eigentlich ständig nur geschlagen hat! Letztes Jahr ist mein Vater an Diabetis gestorben. Als ich 1 Jahr alt war, ist meine Mutter abgehauen und wird seit dem vermisst. Mein Vater war bereits in einem sehr hohen Alter und hat deshalb eine veraltete Vorstellung von Disziplin, die sich in seiner Härte bemerkbar machte. Ich habe außerdem noch 3 Geschwister, ein Bruder und 2 Schwestern, die jetzt alle bei meiner Stiefmutter leben.

Meine Stiefmutter sagt zwar, daß sie mich mag, aber für mich ist das eine Lüge. Gegenüber meinen Geschwistern spricht sie schlecht über mich und wenn ich Geld hatte, hat sie mir das Geld weggenommen. Mein Vater hat damals Drogen verkauft, und ab und zu auch selbst konsumiert.

Ich war bereits in 2 anderen Einrichtungen. Irgendwann wussten die educadores jedoch nicht mehr, wie sie mit mir umgehen sollen, weil ich ständig aggressiv war und andere bedroht habe und deshalb wurde ich fast 1/2 Jahr lang mit Tabletten ruhig gestellt. Das war furchtbar, weil ich mich kaum noch bewegen und meine Gefühle äußern konnte. Deshalb bin ich dort irgendwann abgehauen.

Die Strasse ist für mich mein normales Leben. Ab und zu ist es ziemlich gefährlich, weil die Polizei kommt und auf uns einprügelt. Ich habe eigentlich immer nur Klebstoff geschnüffelt und keine anderen Drogen genommen. Wenn ich Klebstoff schnüffel wird alles anders. Alles ist bunt und gar nicht mehr so grau und hässlich wie sonst. Deshalb hilft es mir der Realität zu entfliehen. Aber es macht meinen Kopf kaputt. und ich habe Schwierigkeiten mich zu konzentrieren und mir Dinge zu merken. Außerdem greift es meine Schleimhäute an.

Im sitio ist alles anders. Ich bin in der Realität, die zwar manchmal hart, aber bestimmt besser ist. Ich habe zu essen und kann zur Schule gehen. Es gibt hier vor allem Menschen, die sich Sorgen um mich machen und mich wirklich gerne mögen. Außerdem kann ich hier Gitarre spielen. Ich liebe alles, was mit Musik zu tun und würde gerne einen Gitarrenkurs besuchen.”

Jau ihr Lieben, das sind die beiden Geschichten. Jetzt wißt ihr ein bisschen mehr über die beiden. Für mich sind das mittlerweile 2 ganz alltägliche Geschichten die man eigentlich immer wieder und ständig hört und sieht. Vielleicht bewegen sie ja bei euch noch mehr, als bei mir!

Ansonsten ist alles beim Alten: ich bin noch immer die doida (verrückte) und mir wird immer mehr bewusst, das es gar nicht so normal ist, das ich so einen Brennschädel habe, aber ich bin halt so wie ich bin und das ist gut so… ..

Das Leben ist gut zu mir und mir wird viel geschenkt, was anderen wohl immer verborgen bleiben wird.

Und wenn ich einfach nur an unserer Gittertür stehe, wenn die Sonne langsam untergeht mit meinem Zimttee in der Hand und Goamusik auf den Ohren und denke: „Eiiiihh wie fein”! Wenn ich mit Lukas zusammen im Dreck liege, weil wir aufgrund unseres nächsten Running-gags mal wieder lachend zusammengebrochen sind und Sergio kopfschüttelnd die Flucht antritt. Wenn irgendjemand wieder mal lautstark „Vipikaaaaa” durchs ganze Dorf brüllt. Oder wenn wir oben im casa dos grandes bei den Grossen mit den ganz Kleinen zum Videogucken gegangen sind und die Kleinen vor der Glotze einschlafen und ich Antonio nach Hause tragen muss, er seinen Kopf auf meine Schultern legt und leise schmatzt und gähnt und ich am Ende merke, wie er lächelnd in die Sterne guckt und gar nicht mehr schläft, sondern es einfach nur genießt von mir getragen zu werde.

Alles das ist es was die Zeit hier so schön und mich so glücklich macht und da frage ich euch: Wie soll es einem da nicht gut gehen?

In diesem Sinne:

Licht und Liebe

Vipika

„Man muss nur ein Wesen recht von Grund aus lieben, da kommen einem die übrigen alle liebenswürdig vor.” (Goethe)

Veröffentlicht am 13.September 2007 um 15:00 im Straßenblog unter der Kategorie Barfuß in Brasilien

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