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Schweiss und Perlen in Brasilien

Oi meine allerliebsten Homies,

 

Ich sitze im sitio am Tisch und schreibe auf dem Computer einer der Praktikantinnen hier. Das ist neu….aber noch so viel anderes ist neu. Ich musste mit Schmerzen feststellen, wie schnell die Zeit vergeht. In meinen Gedanken zuhause war hier natürlich noch alles wie immer. Aber leider bleibt die Zeit nicht stehen. Hab ich ja letztes mal schon feststellen müssen. Aber diesmal war es kurzzeitig wie ein kleiner Hammerschlag auf den Kopf. Zunächst einmal bin ich rechtzeitig in Fortaleza gelandet und nach meiner Angst, Emanuel könnte mich vergessen haben – absurdere Ängste kann man doch eigentlich gar nicht haben – haben mich mein bester Freund Emanuel und sein Bruder Samuel und noch ein Freund vom Flughafen abgeholt. Nach reichlich Cachaca sind wir dann in meine Stammschwulen- und Lesbendisko gegangen. Der selbe DJ, aber irgendwie nicht mehr die selben Leute von damals…

In der Familie Emanuel hat sich eigentlich nicht geändert. Ein Chaoshaufen wie eh und je. So musste ich lernen im Dunkeln auf Klo zu gehen, weil Emanuel es seit einem Jahr nicht schafft, das Licht heil machen zu lassen. Und wir müssen die Wohnung mit zwei Ratten teilen, die ich selbst zum Glück noch nicht gesehen habe. Auch da frag ich mich ob es hier nicht Möglichkeiten gibt, dagegen anzugehen. Der Abwasch stapelt sich auch wie immer – damit die Ratten auch immer gut was zu essen haben – und der Computer ist auch wie immer kaputt, weil Emanuel ständig Sachen aus dem Netz runterläd, obwohl dadurch alle 3 Monate der Computer wieder kaputt geht. Ich glaub ohne all das würde ich mich da gar nicht mehr zurecht finden.

Ich habe dann am Sonntag Lucie angerufen, die Mutter von Eriswaldo, dem Jungen den ich damals die Reise von der Strasse in Fortaleza nach Hause zu seiner Mutter organisiert habe. Und da gab es dann den ersten großen Schock. Eriswaldo war nach fast 2 Jahren wieder zurück ins 7 std. entfernte Fortaleza abgehauen. Ich dachte ich soll kotzen. Sie erzählte mir, das er einen riesen Stress hatte mit einem aus dem Dorf, und das die beiden sich letztendlich fast umgebracht haben. So ist er dann, um keine Dummheiten zu machen, kurzerhand mit dem Fahrrad abgehauen.

Sie sagte, er hätte sich als letztes aus einer Einrichtung gemeldet. Ich hab mich gleich am nächsten Tag ans Telefon geklemmt und siehe da: es hat gar nicht so lange gedauert und ich hatte ihn gefunden. In einem Heim für Jungs. Der hat sich vielleicht gefreut. Vor allem, weil wir uns schon seit über einem halben Jahr nicht mehr gesprochen haben.

 

Zu meiner Erleichterung ging es ihm ausgesprochen gut. Ich habe dann noch kurz mit dem Leiter des Heims gesprochen, der sagte ich solle doch einfach mal vorbeischauen. Vorbeischauen….was für ein Wort…bedeutet in Brasilien natürlich wieder ganz was anderes als bei uns in Deutschland. Bereits ahnend was da kommen mag hab ich mich dann auf den Weg gemacht und habe mir 2 ½ std in 3 Bussen den Arsch platt gesessen. „Ich schau dann mal eben vorbei“….Trotzdem hat es sich gelohnt, denn schon im ersten Gespräch, berichtete mir der Heimleiter, das Eriswaldo so gerne wieder zurück in sein Dorf will, das er allerdings verpflichtet sei, einen Erzieher mitzuschicken. Also bräuchten sie Geld für 3 Fahrten und da sein Dorf „Lavras de Mangabeira“ nicht mal eben ums Eck liegt hier, sprechen wir dann also nicht mehr von vorbeischauen – sei das ganze so teuer, das sie nicht wissen, wie sie das finanzieren sollen. Eriswaldo hätte selbst das Geld erarbeiten müssen und das hätte lange gedauert. Da dachte ich nur „Mich schickt der Himmel“. Wieder mal einer dieser merkwürdigen Zufälle, die einem so im Leben begegnen.

Als ich dann so aus vollem Herzen sagen konnte: Ich übernehme die Kosten, merkte ich plötzlich, wie toll das ist, dass man soviel Spendengeld in der Hand hat und sofort zur Seite stehen kann, wenn es Not tut. Sagenhaft!

Favela - auf gute Nachbarschaft

Eriswaldo und ich haben uns dann noch lange unterhalten und ich habe gesagt, dass er nicht bei der kleinsten Kleinigkeit sofort eine Biege machen kann und das er lernen muss, mit Problemen umzugehen. Ich denke diesmal ist es wirklich seine letzte Chance, denn er wird bald 18 und eigentlich halte ich ihn für sehr intelligent. Er hat mir dann erzählt, das er hier in Fortaleza zuerst zu seiner Tante gefahren ist, wo auch sein Vater wohnt. Das es dort aber schlimmer war, als jemals zuvor, weil sein Vater durch den Alkoholismus und den Übermaß an Cachaca schon völlig verrückt geworden war und entweder nur in der Hängematte lag und auf Tabletten wirres Zeug vor sich her stammelte oder ganz plötzlich wilde Ausraster bekam und die ganze Familie bedroht hat.

Naja, ein Gutes hatte das Ganze auf jeden Fall, ich habe Eriswaldo wiedergesehen, ohne das er nach Fortaleza kommen musste oder ich womöglich noch in „Lavras de Mangabeira“ VORBEISCHAUEN muss. Ich erinnere alle meine treuen Leser an mein tolles Erlebnis im Bus, bei dem sie den Bus anhalten und mich irgendwo in der Pampa ins Krankenhaus fahren mussten, wo ich erst nach drei Spritzen aufgehört habe zu Schreien und zu Heulen vor Schmerzen.

Lucie – die Mama – hat sich ganz doll gefreut, dass er wieder zurückkommt. Ich habe ihr dann noch 200 Reais überwiesen, damit sie sich endlich mal einen Kühlschrank kaufen kann, damit ihre Sachen nicht ständig vergammeln, oder sie die Sachen 500 Meter weiter in den Kühlschrank bei der Schwester legen muss. Oder einen Herd, damit man nicht morgens schon beim Kaffeekochen in einer Qualmwolke sitzt und sich die Lunge ruiniert.

Am Dienstagabend habe ich mich dann mit Maiko getroffen, dem Jungen der ein Mädchen ist und jetzt Michelle Taschen (ja, ihr habt richtig gelesen Taschen, die Mehrzahl von Tasche – super Name oder?) genannt werden will. Der damals aus dem sitio weggegangen ist, kurz nachdem ich das sitio nach den 10 Monaten verlassen habe. Der jetzt mit 2 Dragqueens und deren kiffenden Familie auf 15 Quadratmetern lebt, mit einem Loch als Klo. Mit dem ich damals auf der Schwulen- und Lesbenparade war und den ich letztes mal in der Favela besucht habe, wo ich übernachtete und danach übersäht war mit Flohstichen.

 

Wir haben uns am „Beira mar“ (Strandpromenade) getroffen, zusammen mit 2 anderen „Freundinnen“ und sind Pizza essen gegangen. Maiko/Michelle sieht immer mehr aus, wie eine Frau, spricht aber immer mehr so wie ein Mann. Sehr lustig.

Und wenn einer sein Leben in den Griff bekommen hat, dann Maiko. Er hat tatsächlich ohne die Hilfe von Bernardo einen „Curso“ (eine Ausbildung) organisiert und lernt jetzt Köchin in einem angesehenen Restaurant. Zusammen mit den beiden „Freundinnen“ die auch mit waren. Und irgendwie hat der Chef de cuisin ihnen wohl gesagt, das sie im Oktober nach Deutschland fliegen würden. Das habe ich noch nicht so ganz verstanden, wie das passieren soll, aber wer weiß, vielleicht klappt es ja.

Ich habe ja für Maiko immer den Traum, das er mal einen ausländischen Mann kennenlernt, der ihn über alles liebt und vielleicht sogar mitnimmt, denn hier in Brasilien ist es als Transvestit kaum möglich einen Freund zu finden, der es ernst mit einem meint. Und die meisten Transvestiten verdienen ihr Geld auf dem Strich. Auch deswegen bin ich ganz stolz, was Maiko aus sich gemacht hat. Ich werde ihm beim Kauf seiner Kochjacke unter die Arme greifen, weil ihm dafür das Geld fehlt. Und werde auch sonst noch mal gucken, ob er dringend was braucht. Nächste Woche werde ich ihn bei seiner Ausbildungsstelle besuchen.

Am Mittwoch bin ich dann ins sitio gefahren. Und der erste grosse Schock liess nicht lange auf sich warten. 5 der Erzieher die ich von damals noch kannte, sind nicht mehr hier. Meine über alles geliebte Armelia hatte sich aus dem Staub gemacht und arbeitet jetzt in einem Restaurant in der Küche, weil sie dort mehr Geld bekommt (wo sind da denn bitte die Relationen?). Joao hatte auch kein Bock mehr für so wenig Geld zu arbeiten. Und Francisco musste gehen, weil er sich nach einem Streit mit einem der Jungen geprügelt hatte. Er hatte wohl einen kurzen Aussetzer. Darf man nicht, aber manchmal kann ich verstehen, das man sich hier selbst nur schwer im Zaum halten kann.

Ganz viele der älteren Jungs sind nicht mehr da, weil sie jetzt eine Ausbildung machen oder Arbeiten gehen. Und irgendwie ist es hier dadurch ganz schön ruhig geworden. Fast schon langweilig…..Ich weiß noch genau, wie ich damals immer geflucht habe über die Jungs, wenn sie sich mal wieder geprügelt haben, oder einen beschimpft haben – manchmal aus Spaß, manchmal im Ernst – wenn sie einen durch die Gegend geschmissen haben und man abends seine blauen Flecke pflegen musste. Man ist das jetzt langweilig geworden….Dafür sind jetzt ganz viele kleine Jungs hier. Die sind zwar auch nicht ohne, aber das bekommt man nicht so am eigenen Leib zu spüren.

Einer der Jungs der 2006 aus dem sitio abgehauen ist, ist erschossen worden. Er ist „ausversehen“ von einer Kugel getroffen worden, die eigentlich nicht für ihn bestimmt war. Ja, so kann`s gehen…..

Einer meine Lieblingsjugendlichen von hier, der eigentlich immer der Vorzeigejunge aus dem sitio war und bereits eine eigene Wohnung besaß und in Ausbildung war, hat dann merkwürdigerweise Karneval zusammen mit Freunden einen Bus überfallen und sitzt jetzt im Knast hier in Maranguape. Unfassbar. Vor allem, weil das niemals jemand von ihm erwartet hätte.

Dann habe ich die ganzen Kameras entdeckt, die hier in den Bäumen angebracht sind. Zuerst habe ich gedacht, Bernardo lässt die Kinder beobachten. Aber Sergio – unser Mädchen für alles hier – hat mir erzählt, das hier vor 5 Monaten ein Überfall war. Die haben Bernardo mit vorgehaltener Knarre aus dem Haus geholt, ihn gefesselt und in die Küche gesperrt und später sind sie dann mit ihm ins Sekretariat und da musste er dann das Bargeld rausrücken.

Deshalb haben sie jetzt vorne am Eingang zum sitio eine riesige Mauer hingebaut die jetzt mit einem Tor verschlossen wird und überall hängen Kameras.

Ich frage mich, wie Bernardo das wegsteckt. Und ehrlich gesagt glaube ich, dass man so was gar nicht alleine wegstecken kann.

Bernardo ist auch noch mal ein Stück seltsamer geworden und langsam mache ich mir ernsthafte Sorgen. Der wirkt manchmal ein bisschen, als hätte er 2 Persönlichkeiten.

Ich fahr Taxi Tag und Nacht...

Ich habe dann erst mal mit Sergio beraten, was man alles mit der Kohle anstellen kann. Wir werden jetzt am Samstag zusammen nach Fortaleza fahren und dort 2 neue Sofas für 2 Häuser kaufen, weil die total zerstört sind, voll mit Kakerlaken und ganz furchtbar nach Pisse stinken. Außerdem werden die Kinder Moskitonetze bekommen, weil die Nachts vor lauter Moskitos nicht schlafen können und jeden Morgen komplett zerstochen sind und die Stiche sich entzünden. Dazu gibt es für jedes Wohnzimmer in den Häusern einen Deckenventilator, damit die Jungs abends auch mal in Ruhe Ferngucken oder was anderes machen können, ohne permanent den Mücken ausgesetzt zu sein.

Die Erzieher bekommen alle eine Taschenlampe, damit sie nachts durch das sitio laufen können, ohne das sie vor den Schlangen Angst haben müssen. Ich habe übrigens keine Taschenlampe und ich muss wirklich reichlich dämlich aussehen, wenn ich hier so nachts laut mit den Füssen auftretend durch das sitio laufe um den Schlangen zu signalisieren das ich komme, damit sie mir den Weg frei machen….

Wie jedes Jahr seit dem ich hier bin, sagt Bernardo der gemeinsame Ausflug an den Strand findet nicht statt, weil dafür das Geld fehlt. 2007 habe ich den Ausflug bezahlt und 2008 hat Martina, eine Praktikantin die ich auch kennenlernen durfte, umsonst 2 Busse organisiert, weil sie einen von der Prefeitura – also vom Stadtamt – hier in Maranguape kennengelernt hat, der sie ganz toll fand, und deshalb die Busse gestellt hat. Ich habe jetzt mit Sergio besprochen, dass ich da anrufe und frage. Kann doch wohl nicht angehen. Ich weiß noch ganz genau, was für ein Highlight das für die Jungs war.

Außerdem werde ich noch Silvana fragen, ob ihr was einfällt. Sie macht für Bernardo die Hausbesuche in den Favelas und da gibt es bestimmt auch noch Ideen, wie man das Geld ausgeben kann.

So sehen bisher meine Spendenpläne aus. Ich werde das Geld bis zum Ende in der Hand behalten, denn man weiß ja nie, was da noch so kommt. Den Rest vom Geld werde ich dann Bernardo geben.

Witzigerweise hat er die Idee mit den Nähmaschinen und der Ausbildung für die Mütter der Kinder mittlerweile selbst in die Tat umgesetzt. Und so gibt es jetzt in Fortaleza ein Haus für die Mütter, in dem sie Nähen lernen. Manchmal glaube ich, dass er doch versucht, die Ideen der Praktikanten in die Tat umzusetzen. Er tut nur erstmal so, als wenn die Ideen scheisse sind. Das haben wir hier öfters schon feststellen müssen.

 

Antonhio, meinem Patenkind, scheint es gerade nicht so wirklich gut zu gehen. Erstmal hat er so getan als wenn er mich nicht kennt und hat etwas gebraucht um wieder auf mich zuzugehen. Aber abends hat er dann an meiner Seite gesessen, hat seine kleinen dünnen Ärmchen um mich geschlungen und hat mir gesagt, wie sehr er mich vermisst hat. Am nächsten Tag saß er dann abends beim Fernsehen, bei mir im Schoss und hat die ganze Zeit an meinem Bein genuckelt und ich hatte einen richtig nassen Fleck auf der Jeans.

Sergio sagt, er ist so komisch, seit dem er bei seinem Vater Zuhaue war in den Ferien. Danach ist er wohl total in sich gekehrt zurückgekommen. Wer weiß, was da passiert ist…

Letzte Woche bin ich zum „Lagoa“ dem Busterminal gefahren, an dem die Kinder sich normalerweise immer aufgehalten haben. Leider war da niemand außer eine ganze Batterie an Polizisten die den Terminal bewacht haben. Der Typ von der Theke an der sich sonst immer meine Cola light getrunken habe wenn ich da war, hat mir dann erzählt, dass die alle vertrieben worden sind und in der Nähe vom nächsten Terminal an einer Kirche rumhängen. Ich habe mich jetzt für nächste Woche mit der „Funcie“ dort verabredet, mit der Organisation mit der ich damals immer auf der Strasse war. Die Ecke ist nämlich um einiges gefährlicher als der Lagoa-Terminal.

So ihr Lieben, das mal zu mir. Es regnet gerade mal wieder wie aus Eimern. Zum Glück nicht den ganzen Tag, aber immer mal wieder. Dafür ist alles schön grün hier.

Ich werde versuchen die Zeit hier so gut es geht zu genießen, denn ich weiß, wie schnell sie dann doch wieder vorbei ist.

Mit Licht und Liebe im Herzen

Eure Vipika

Veröffentlicht am 20.März 2009 um 16:58 im Straßenblog unter der Kategorie Barfuß in Brasilien

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