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Licht und Liebe

01cimg5813.JPGDa bin ich wieder, mit noch leichten Nachwehen meiner ominösen Krankheit… ..tja, da hat’s mich wohl mal wirklich erwischt. Und so habe ich die letzten Tage im Bett verbracht. Dazu komme ich aber am Schluss… Und wer jetzt denkt „na, dann hat sie diesmal ja nix zu erzählen”, da kann ich nur sagen „Nö! Hab ich wohl!”

„Lavras de Mangabera“ war eine super schöne Erfahrung für mich und ich habe letztes mal gemerkt, das ich beim Schreiben noch gar nicht wirklich für mich reflektiert habe, was da eigentlich so alles passiert ist. Dieser Trip wird mich auf jeden Fall für immer prägen und ich bin ganz furchtbar traurig, weil ich weiß, dass ich Eriswaldo wahrscheinlich nie wieder sehen werde.

Als wir uns am Bus verabschiedet haben, konnte er mir kaum in die Augen sehen und hat sich hinter dem Bus versteckt, als ich eingestiegen bin. Als ich im Bus saß und nach ihm Ausschau gehalten habe, war er verschwunden. Ich glaube dem ist sein kleines Herz zerbrochen und er hat mich vorher so oft gefragt, wann ich denn wiederkomme. Ich habe es nicht übers Herz gebracht zu sagen, das ich wohl nicht wieder kommen werde und so habe ich nur gesagt, das ich mal sehen muss, wie lange ich eigentlich noch in Brasilien bin. Also eine völlig uneindeutige Aussage, die alles aber auch nichts heißen kann.

11cimg6530.JPGEriswaldo wird auf jeden Fall für immer einen Platz in meinem Herzen einnehmen und wer weiß, vielleicht schaffe ich es ja tatsächlich, das er irgendwann studieren kann. Vielleicht sollte ich in Deutschland einfach ein paar Eriswaldo-Soli-Aktionen starten. Ich glaube, wenn einem der Jungs wirklich geholfen ist, dann ist das viel, viel, viel wert… ..

12cimg6548.JPGAuch eine andere Geschichte habe ich für mich im Herzen zu Ende gebracht und so weit reflektiert, das ich damit gut leben kann und Verständnis habe. Nämlich die Geschichte mit der guten „alten” Meyre Helen, die aus Rio de Janeiro wieder zurückgekehrt ist, nachdem wir für sie das Flugticket gekauft hatten. Christine und ich haben danach lange, oft und ausgiebig über Skype telefoniert und uns Gedanken gemacht, „wieso?” und „warum?”. Und so hat Christine vor drei Wochen einen Artikel für die Zeitung „Neue Welt verfasst mit dem wir beide das Thema dann letztendlich für uns abgeschlossen haben. Diesen Artikel und das dazugehörige Foto will ich euch NATUERLICH nicht vorenthalten. Ich habe gerade auch aus Deutschland bezüglich Mery Helen und ihrer Rückkehr, viele Rückmeldungen bekommen, das solche Rückschläge immer wieder zu erwarten sind, aber ich glaube dieser Artikel geht über „Erwartung” hinaus und lehrt uns aufrichtiges Verständnis:

„Vor sechs Monaten ging ich nach Brasilien, um dort einerseits Feldforschung für meine Diplomarbeit und andererseits intensiv Straßenarbeit zu betreiben. Nun bin ich zurück und gebe zu, mich etwas verloren zu haben – in der Perversität des Lebens.

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Fast jeden zweiten Tag besuchte ich eine Gruppe Straßenkinder, die aus ca. 30 Acht- bis Achtzehnjährigen bestand. Die menschlichen Grausamkeiten, die diese Kinder durchlebt haben und teilweise immer noch durchleben sind unbeschreiblich. Kein Zeitungsartikel und kein Fernsehbericht kann je nahe bringen, was diese Kinder täglich an Seelenqualen erleiden.

Ein 18-jähriges Mädchen, Meyre Hellen, bat mich über sie zu berichten…

Meyre wurde am 13. Januar dieses Jahres achtzehn und ist damit eine der ältesten Jugendlichen der Kinder vom Busterminal „Lagoa“. Besonders die Kleinen lieben sie, weil sie sich mütterlich um sie kümmert, sie ernst nimmt und liebevoll über ihre Haare streicht. Mit ihren zwei besten Freundinnen geht sie seit Jahren durch dick und dünn. Niemand kann sie lange voneinander trennen. Die Truppe vom Busterminal „Lagoa“ ist zu ihrer Ersatzfamilie geworden. „Was uns zu Hause fehlt, das finden wir hier.“

Schauen Sie sie an! Was sehen Sie? „Ich lebe auf der Straße und ich bettele. Aber ich bin keine leere Hülle. Ich habe eine Geschichte und Träume. Ich mag Poesie und überhaupt lese und schreibe ich gern, interessiere mich für Museen aller Art und besonders für Naturwissenschaften. Meine Eltern wollten immer, dass ich einmal Architektin oder Ingenieur werde, aber ich will lieber Sozialarbeiter werden und Menschen helfen, die auf der Straße leben – so wie ich selbst. Ich wünsche mir sehr oft, dass uns die Leute mit mehr Respekt behandeln würden. Aber sie fürchten und verachten uns. Sie sehen nur, wie wir es nicht schaffen unseren Schusterleim aus der Hand zu nehmen.“

Doch können Sie sich ohne Zigarette, ohne Alkohol – ja ohne Drogen sehen, wenn Sie wie Meyres Mutter Ihren Kindern eingeweichte Holzstücken geben müssen , damit sie etwas zum Kauen haben? Was würden Sie tun, wenn Sie wie Meyres Mutter, mit Ihren Kindern vor Ihrem gewalttätigen Ehemann fliehen müssen und ihre einzige Zufluchtsstätte monatelang eine Brücke ist? Ja, wie viel Moral bleibt denn übrig in uns, wenn wir verzweifeln, wenn es uns am Nötigsten fehlt? Würden Sie nicht auch alles tun, um das Ãœberleben Ihrer Kinder zu retten?

„Meine Mutter verkaufte in ihrer Not tagsüber Drogen und nachts sich selbst und sicherte so eine Zeit lang unser Ãœberleben. Ich ging zur Schule, es fehlten nur noch zwei Monate zum Abschluss.“

10cimg6445.JPGDoch dann, vor nunmehr vier Jahren, geschah die Katastrophe. Eines Tages fehlte der Erlös aus ihrem Drogenverkauf.

Können Sie sie sich vorstellen? Die rauen, zischenden Männerstimmen vor der Tür, die unnachgiebig ihren Profitanteil einfordern? Die panisch flehende Stimme der Mutter, sie könne alles erklären? Doch wer sich in den Dienst der Drogenbosse stellt, kann kein Nachsehen erwarten. Der Teufel fordert immer seinen Tribut. „Ich war vierzehn und musste mit ansehen, wie sie meine Mutter hinrichteten.“ Schüsse fielen, immer und immer wieder. Erst zwei Kopfschüsse, dann siebenundzwanzig Brustschüsse. „Meine Mutter starb in meinen Armen. Alles war voller Blut.“

Seitdem vergeht kein Tag, an dem Meyre nicht die Schüsse hört und ihre sterbende Mutter blutgebadet in ihren Armen hält. Keine Droge der Welt kann diese Erinnerungen löschen, aber der Schusterleim, das Crack, das Marihuana usw. hilft ihr das Unvergessliche zu ertragen…

Wie schön es ist wieder in Deutschland zu sein! Wie wunderbar es ist, wieder dieser Welt entfliehen und sich einmal mehr in seiner Computerwelt verstecken zu können! Wie erlösend ist es, sich wieder unbemerkt aus dem Kampf gegen Unmenschlichkeit in die Konformität zurückziehen zu können. Sei willkommen, Du virtuelle Realität, in der das Leben abspeicherbar und gerecht ist und ich immer der Sieger bin!

09cimg6440.JPGUnd rundum zufrieden darüber, letztendlich wenigstens noch eine virtuelle Welt zu allgemeinem Wohlergehen geführt zu haben, lege ich mich guten Gewissens schlafen und betrete mein noch viel blumigeres Träumeland – fern von einer Welt, in der heute noch Schüsse fallen und eine Mutter ermordet wird – und in der heute einmal mehr die Menschheit scheitert.

Ja, herrlich ist es, früh morgens aufzuwachen und das Gefühl zu haben, die vergangen sechs Monate wären nur ein böser Traum gewesen – denn unsere Welt ist in Wirklichkeit ja Gott sei Dank eine (Matt-)scheibe.”

Ende

So, und jetzt kommst du… … .

Ich glaube jedes weitere Wort ist unnötig und so komme ich jetzt zu anderen Dingen!

„Funcie” zusammen auf der Strasse und unter anderem mit einem Sozialarbeiter mit Namen Neno. Vor zwei Wochen haben wir uns allerdings das erste mal so richtig unterhalten und da habe ich bemerkt, wie sich innerhalb von Minuten das Bild eines anderen Menschen im Kopf komplett wandeln kann. Für mich war er einfach immer nur der Sozialarbeiter, der weiß, wie man Stelzen läuft und gerne mit den Kindern Musik macht. Bis er mir dann im Gespräch erzählt hat, das er selber 9 Jahre lang in einer Einrichtung für Straßenkinder gelebt hat. Da war ich echt platt… .Irgendwann hat er dann wohl angefangen, sich für Zirkus zu interessieren und hat dann hier in Fortaleza in einem Zirkus für Straßenkinder mitgemacht. Und so hat er dann später mit 20 Jahren Workshops in São Paulo, Rio de Janeiro und Brasilia besucht und war sogar schon bei einem Workshop in Frankreich dabei. Mittlerweile ist er ausgebildeter Zirkuskünstler, Musikproduzent und Straßensozialarbeiter und ich finde, das lässt auf jeden Fall ganz stark hoffen!!! Eine, wie ich finde sehr schöne Geschichte, die mich in dem Moment echt berührt hat. Und so saßen wir beide uns im Gespräch gegenüber und plötzlich saß da für mich ein völlig anderer Mensch als vorher… .total irre… kaum zu beschreiben!! (Er ist übrigens verheiratet und hat mich am Ende des Gesprächs ganz keck gefragt, ob ich mir vorstellen könnte, was mit ihm anzufangen, wenn er denn nicht verheiratet wäre und hat mich dann auch prompt die Woche angerufen, wann ich denn mal Zeit hätte!!! Soviel noch mal zur Treue der Brasilianer!!!!!)

08cimg6423.JPGDas sitio steht noch immer. Wir haben drei neue Kinder und wie immer gehen bei mir Beschwerden von Sergio und den educadores ein, dass ich ständig unterwegs bin und nicht konstant meine Zeit im sitio verbringe. Das finde ich ziemlich unfair, weil ich eigentlich meistens unterwegs bin im Auftrag des Straßenkindes. Ob nun in Fortaleza (Fortalessssa) zur Straßenarbeit oder „Lavras de Mangabera“ oder in der Favela. Und da wir nur wenige konkrete Aufgaben haben, habe ich meine Arbeit hier in Brasilien eben selbst in die Hand genommen… .Zum Glück. Und wenn es im sitio Aufgaben gibt, dann erledige ich die auch… .Aber ich glaube die Beschwerden rühren eher daher, dass mich ziemlich viele educadoren sehr gerne mögen und ein wenig eifersüchtig sind. Naja, und meine 4 Tage im sitio kriege ich auf jeden Fall immer voll! Aber genug der Motzerei.

06cimg5952.JPGUm mal zu verdeutlichen, mit welcher stumpfen Härte die Kinder teilweise gegeneinader vorgehen, ohne Rücksicht auf Verluste: Vorgestern stand Daniel, eines der Kinder, vor unserem Haus und sah aus wie ein Streuselkuchen. Mit einer riesigen aufgeblasenen Lippe und dickem Auge und total zerstochen. Eines der Kinder hatte ihn mit einem Wespennest beworfen und die haben sich dann natürlich an dem nächst Besten vergriffen, der gerade da war. Wir haben ihm dann die Stellen mit Eis gekühlt und viel Fenistil drauf geschmiert. Die anderen Kinder hatten natürlich nichts Besseres zu tun, als ihn tierisch auszulachen. Macht ja auch nix… kann man ja bloß dran sterben, falls man eine Allergie hat, oder zu viele Stiche einen Schockzustand verursachen… ..Hahaha! Da könnte ich dann schon so manches mal… nein, ich spreche es jetzt nicht aus! Die Wespen hier sind vor allem riesig groß und ich möchte nicht wissen, was die an Mengen von Gift mit sich herumtragen. Tja, sitio-Alltag eben.

05cimg5885.JPGLeider ist es mittlerweile so, das der Sandweg, den man 40 Minuten zur nächsten Strasse gehen muss, mittlerweile total gefährlich geworden ist, weil schon mehrer Leute dort überfallen worden sind. Unter anderem der Bruder von Beto, einem der Sozialarbeiter, dem haben sie mit vorgehaltener Waffe das Motorrad unterm Arsch weggeraubt. So können wir jetzt nicht mehr im Dunkeln mit dem Moto-Taxi zur Strasse fahren und auch zu Fuß den Weg gehen ist nicht mehr drin. Was einem natürlich noch mehr das Gefühl gibt von „Abgeschnitten von der Außenwelt”. Reicht nicht, das das Telefon nur 2 Std. am Tag funktioniert und dann aber auch nur mit Vorbehalt… .

19cimg5637.JPGIn Tabatinga, dem nächst gelegenen Dorf, haben sie vor 4 Wochen einen Typen auf einem Fest am Wochenende wegen 2 Reais (50 Cent) erschossen. Da muss es aber einer wirklich nötig gehabt haben… .Vielleicht ein starker Raucher mit extremen Schmacht… .man weiß es wie immer nicht!!

Neulich bin ich am Terminal im Bus eingestiegen, da war der Sitz neben mir komplett mit frischem Blut verschmiert und überall lagen blutverschmierte Taschentücher rum. Und vor mir saß eine alte Frau, die sich aufgrund dessen die ganze Zeit bekreuzigt und irgendwelche Gebete gemurmelt hat. Der Busfahrer hat allerdings auch keine Anstalten gemacht, die Schmiererei mal weg zu machen. Der hat wahrscheinlich auch nur gedacht: „Naja, tritt sich fest!”

 

Ich war übrigens vor zwei Wochen am Sonntag mit Lucas und zwei Freunden von ihm hier im Fußballstadion in Fortaleza… da war mal watt los. Unfassbar. Ich glaube das Spiel war eher Nebensache, denn gespielt haben an diesem Tag die beiden Vereine, die sich am meisten Hassen: Fortaleza gegen Céara. Dementsprechend flogen dort die Fetzen und das Blut. Und auffallend wenig Polizei für so viele Leute, die zum größten Teil Bock auf Keile haben… Auch eine Art von Prävention, gar nicht erst so tun, als sei hier irgendwas gefährlich… .(Pfeiff). Aber ist schon eine geile Stimmung, vor allem hatten beide Seiten so einiges an Schlaginstrumenten zu bieten und haben sich dann die ganze Zeit mit Sambarythmen, Gesinge und Getanze gebettelt. Leider hatte ich meinen Fotoapparat nicht dabei… nächstes Mal… !

 

So lag ich nun also drei Tage lang im sitio im Bett und hatte irgendwann das Gefühl, ich renn die Wände ein. Mein Gott, war das öde… unfassbar… kein Fernseher, Lesen ging irgendwie nicht. Meine CDs hatte ich auch schon alle durch. Als ich dann die Puppet Mastaz gehört habe, habe ich irgendwann bemerkt, das ich tanzend und johelnd im Bett liege… .Toll, wenn man nicht das Gefühl hat, man soll sterben weil man krank ist, sondern stumpf vor Langeweile… .und so habe ich irgendwann tatsächlich sowas wie Heimweh bekommen…

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Ich drücke euch alle ganz fest und aus tiefstem Herzen

Love and light

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Die Vipika


Veröffentlicht am 24.Januar 2008 um 17:16 im Straßenblog unter der Kategorie Barfuß in Brasilien

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