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Fuer alle die glauben, das Leben sei schlecht zu ihnen…….

Aroldo

Ich wohnte mit meiner Mutter und meinen Brüdern im Stadtteil „Panamericano“. Wir waren acht Geschwister, vier Jungs und vier Mädchen. Mein ältester Bruder ist tot. Als er gestorben ist bin ich wieder auf die Straße gegangen. Ich bin schon vorher dort gewesen, aber ich bin immer wieder nach Hause zurückgekehrt und ging zur Schule.

Er ist erschossen worden, er war süchtig nach Haschisch und klaute viel. Er war sehr schlimm. Er hat sogar schon einmal unseren Nachbarn überfallen und war ein paar Mal in der Einrichtung „FEBEM“ untergebracht worden. Als er das letzte Mal entlassen wurde ist er nach Hause gekommen.  Eines Tages traf er auf der Straße einen Typen, mit dem er schon Ende des Jahres Streit gehabt hatte. Der ging ganz nah an meinem Bruder vorbei und sagte zu ihm:

„Der Tag ist gekommen!“

Nachts stand mein Bruder vor dem Haus meines Onkels; er hatte das Baby meiner Cousine auf dem Arm. Der Typ kam auf einem Mofa vorbeigefahren und hat fünfmal auf meinen Bruder geschossen. Zwei Schüsse haben ihn getroffen. Mein Bruder hat das Baby auf den Boden fallen lassen. Eine Kugel hat seine Lunge getroffen, die andere ist in der Wirbelsäule stecken geblieben. Mein Bruder ist nicht sofort gestorben, er war vorher einige Zeit im Krankenhaus.

Als er entlassen wurde ist er nach Hause gekommen, aber er konnte nicht mehr laufen; er saß im Rollstuhl, weil er seine Beine nicht mehr spürte. Da er immer auf einer Matratze  lag hatte er Wunden am ganzen Körper. Eines Tages bekam er Atemnot. Deshalb ist er wieder ins Krankenhaus gegangen, wo er später gestorben ist. Er saß nur etwa zwei Monate im Rollstuhl. Er konnte sich nur mit allergrößter Mühe bewegen. Bevor er ins Krankenhaus gefahren ist, hat er meiner Mutter gesagt, dass jemand ihn rufen würde. Meine Mutter bat ihn, nicht zu gehen, aber er ist gegangen und dort ist er  gestorben. Er war 15 Jahre alt. Als mein Bruder angeschossen wurde kam mein Cousin mit einer Pistole in der Hand aus einer Seitengasse gerannt. Er hat dreimal auf den Typen geschossen, aber er hat ihn nicht getroffen. Später hat mein großer Bruder, er ist 18 Jahre alt, den Mörder meines Bruders in einer Bar gesehen. Er ist hinter ihm her und hat ihm dreimal mit einem Messer in den Hals gestochen. Der ist heute noch im Krankenhaus.

Als mein Bruder angeschossen wurde war ich nicht zu Hause. Ich war unterwegs, um Süßigkeiten zu verkaufen. Als ich an der Bushaltestelle ankam, hörte ich einen Knall. Da habe ich zuerst gedacht, dass jemand ein Tor geschossen hat, es war ja gerade Fußballweltmeisterschaft. Ich habe nicht im Traum daran gedacht, dass es ein Schuss war oder schlimmer noch, dass es meinen Bruder getroffen hat. Alle sind weggerannt und ich dachte immer noch, dass ein Tor gefallen war. Als ich mich umgedreht habe, sah ich eine Menschenmenge um etwas herum stehen. Da sah ich, dass mein Bruder von einigen Leuten weggetragen wurde. Er hat mich angeschaut, dann hat er die Augen geschlossen. Er hat geschrien, dass er seine Beine nicht mehr spüre und hat nach unserer Mutter gerufen. Die Jungs haben ihn in ein Auto gelegt und ins Krankenhaus gefahren. Meine Mutter hatte ihm immer schon gesagt, dass er mit diesem Leben aufhören soll. Aber in Wahrheit hatte er damals schon damit aufgehört. Er rauchte nur ab und zu Haschisch. Er klaute nicht mehr und ging zur Schule. Ich bin sehr traurig, dass mein Bruder gestorben ist, vor allem weil er so jung war. Er war erst 15 Jahre alt.

Meine Geschwister und ich haben alle denselben Vater, nur meine kleine 4-jährige Schwester ist die Tochter meines Stiefvaters. Meine Eltern haben sich vor 9 Jahren getrennt. Mein Vater kommt ab und an zu uns nach Hause und gibt uns etwas Geld. Meine Mutter kauft dann Reis, Bohnen und Brot fürs Frühstück. Mein Stiefvater besucht uns auch manchmal, isst etwas und sieht bei uns fern. Meine älteste Schwester war Crack-süchtig. Sie hat Sachen aus unserem Haus geklaut, um sich Drogen kaufen zu können, zum Beispiel die Uhr und das Handy meiner Mutter. Jetzt wohnt sie aber nicht mehr bei meiner Mutter. Sie ist verheiratet und hat zwei Söhne. Ich glaube der Teufel führt die Menschen in Versuchung; er redet uns ein, dass Klauen gut ist. Meinen beiden großen Schwestern wohnen nicht mehr daheim. Sie sind verheiratet. Eine wohnt gleich um die Ecke, die andere etwas weiter weg. Meine Nichten sind auch immer bei uns zu Hause und helfen meiner Mutter. Meine Tante kommt auch oft zu uns, weil ihr Mann Drogen nimmt, deshalb hält sie es bei sich zu Hause nicht aus.

Mein Haus sieht aus wie ein riesiger Ofen, alle rauchen, der Zigarettenqualm steigt sogar aus den Dachluken des Hauses. Die Kinder husten die ganze Zeit, deshalb habe ich ihnen gesagt, sie sollten draußen rauchen.

Eine Zeit lang hat mein Vater den ganzen Tag nur getrunken. Er hat gar nichts mit nach Hause gebracht, deshalb hatten wir nichts zu essen. Ich habe sogar geweint vor Hunger. Da habe ich meiner Mutter gesagt, dass sie sich nicht schämen soll. Ich bin dann zu unserer Nachbarin gegangen. Sie mag unsere Mutter sehr gerne. Ich habe sie gefragt, ob sie etwas zu essen für mich und meine Mutter hätte. Sie hat uns etwas gegeben. Ich habe es meiner Mutter gegeben. Dann bin ich zu einem Laden gelaufen, dort haben sie mir Kekse gegeben, die habe ich sofort gegessen.

Dann habe ich meinem Vater gesagt, er soll mit dem Trinken aufhören. Er war durch den vielen Schnaps krank geworden, seine Vene war verstopft. Seitdem wollte er nie wieder trinken. Immer wenn mein Vater etwas Geld verdiente gab er uns 20 oder 25 Real. Er arbeitete als Schreiner.

Ich bin so etwa mit 10 Jahren das erste Mal auf die Straße gegangen. Ich hielt mich in den Busterminals und im Zentrum auf, ich fuhr damals gerne Bus. Ich habe die Leute um Geld angebettelt, damit ich mir Essen kaufen konnte. Ich habe einen Mann kennengelernt, der in den Busterminals Süßigkeiten verkauft hat. Er sagte mir, dass ich mit betteln keine Zukunft habe. Er hat mich gefragt, ob ich zur Schule gehe. Ich habe ihm geantwortet, dass ich nachmittags zur Schule gehe. Da hat er mich gefragt, ob ich arbeiten will und ich habe ja gesagt. Er hat mir einen Teller Hühnersuppe gekauft. Dann hat er mir gesagt, ich soll mir einen seiner Bauchläden nehmen, damit ich im Bus Süßigkeiten verkaufen kann. So habe ich angefangen Süßigkeiten zu verkaufen. Ich stieg in den Bus, sprach die Passagiere an und erzählte ihnen über meine Arbeit.

Damals nahm ich keine Drogen, ich wusste auch nicht, was Klebstoff ist. Ich sah die „mirins“ ( = Straßenkinder, die klauen ) , stieg in den Bus und fuhr weg, aber ich wusste nicht einmal, was sie da taten. Ich habe gesehen wie ein „mirim“ im Busbahnhof Klebstoff geschnüffelt hat, aber das hat mich überhaupt nicht interessiert. Ich verkaufte Süßigkeiten, dann fuhr ich nach Hause und gab das ganze Geld meiner Mutter. Der Mann für den ich verkaufte war offiziell registriert, er durfte Süßigkeiten im Busbahnhof verkaufen. Ich durfte eigentlich nichts verkaufen, weil ich nicht eingetragen war. Wenn die Wachleute mich kontrolliert haben, habe ich immer gesagt, dass ich dem Mann nur aushelfe. Dann haben sie mich mit meiner Ware gehen lassen. Manchmal haben sie mir die Süßigkeiten weggenommen und nicht mehr zurückgegeben.

Ich habe meine Freunde gefragt, ob sie auch Süßigkeiten verkaufen wollen. Ich habe  ihnen gezeigt, wie man es am besten macht und sie haben es nach und nach gelernt. Meine Freunde arbeiten immer noch als Verkäufer. Einer von ihnen ist jetzt so groß wie ich, er ist schon offiziell registriert. Ein anderer ist auch durch mich Verkäufer geworden, aber er war nicht besonders gut. Ich musste ihm erst beibringen, richtig zu sprechen. Jetzt spricht er sehr gut. Ich verkaufte „jujuba“ ( brasilianische Süßigkeit ) und Ingwer-Bonbons.

Ich habe so ungefähr mit 12 Jahren angefangen, Drogen zu nehmen. Ich verkaufte gerade meine Ware in einem Bus auf der Avenida Santos Dumont ( große Straße in Fortaleza ), dort liefen meine Geschäfte besonders gut. Da rief mich ein großer Mann zu sich. Er war gerade auf dem Heimweg vom Strand. Er hat mir Klebstoff gegeben, so habe ich angefangen zu schnüffeln. Ich habe mich mit den anderen Jungs, die Drogen nehmen, angefreundet. Ich fing an Klebstoff und Lösungsmittel zu nehmen und Zigaretten zu rauchen. „Pedra“ (= Crack ) habe ich aber nie genommen.

Ich war damals sehr dünn, wenn ich auch Crack genommen hätte, wäre ich nur noch Haut und Knochen gewesen. Ich hörte auf zu arbeiten. Drogen legen einen Menschen komplett lahm. Ich habe mit allem aufgehört, nichts mehr gelernt. Die Drogen haben mich sogar von meiner eigenen Mutter, die mich auf die Welt gebracht hat, distanziert.

Meine Mutter hat oft versucht mit mir zu reden, sie hat mich in der prallen Sonne gesucht. Aber das hat alles nichts genützt. Ich bin nicht nach Hause gekommen. Ich bin zu den Busbahnhöfen „Lagoa“, „Siqueira“ und „José Walter“, zum „Beira-Mar“ (Strandpromenade) und zur Favela „Oitão Preto“ gefahren.

Ich habe auch schon mit meinem Bruder, der mittlerweile tot ist, zusammen geklaut. Wir sind über die Mauer des Militärstützpunktes gesprungen. Wenn die Kinder vorbei kamen, um zur Schule zu gehen haben wir Fahrräder und Sandalen geklaut. Die Kinder wohnten bei meinem Vater in der Nähe und sagten, sie würden es ihm erzählen. Wir waren noch so jung, dass uns das egal war. Als mein Vater es erfuhr kam er, nahm ein Handtuch, machte zwei Knoten ans Ende, hielt es unter Wasser und schlug uns damit. Wir wohnten in Papoco. Wir waren eine Art Gang, aber die anderen Jungs waren viel kleiner als wir.

Manchmal sind wir in einen Laden gegangen und haben einfach alles in unseren Rucksack gepackt: Shampoo, Cremes etc. Wir haben nur ganz billige Kekse gekauft. Dann sind wir nach Hause gegangen und haben alles aufs Bett geworfen. Dann haben wir die Sachen aufgeteilt, um sie zu verkaufen. Meine Mutter hat es gesehen, aber sie wusste nicht, dass wir alles geklaut hatten. Wir haben ihr gesagt, dass wir mit Autos bewachen Geld verdient hätten.

Eines Tages bin ich beim Klauen erwischt worden. Ich bin in das Geschäft gegangen und habe ein Shampoo in meiner Hose versteckt. Er hat es gesehen. Der Mann hat mich mit seinem Auto nach Hause gefahren und hat meiner Mutter einige Sachen gegeben. Seitdem wollte ich mit dem Ganzen nichts mehr zu tun haben und ich klaute nicht mehr! Meine Mutter hat mich deswegen verprügelt. Seitdem wollte ich nie wieder stehlen, schließlich muss man auf seine eigene Mutter hören.

Danach bin ich wieder auf die Straße gegangen. Ich bin nachmittags hingegangen und nachts wieder zurück gekommen. Ich habe viele Drogen genommen und gebettelt. Als ich auf der Straße war habe ich zu den Leuten gesagt, sie sollen auf ihren Schmuck und ihre Uhren aufpassen, denn ich wollte mich mit ihnen anfreunden. Die Kioskbesitzer haben mich losgeschickt um Sachen für sie zu kaufen. Damit habe ich ein bisschen Geld verdient, immer noch besser als zu klauen. Wenn ich die Leute nach Geld gefragt habe, haben die Angst gekriegt, ich habe ihnen dann gesagt, dass sie sich keine Sorgen machen müssen, weil ich nicht mehr klaue. Die Kiosk-Verkäufer haben mich losgeschickt, um Zucker und Kaffe zu kaufen, das Restgeld haben sie mir gegeben.

 Früher habe ich morgends Süßigkeiten verkauft, dann bin ich zur Schule gegangen und danach war ich zu Hause. Als ich angefangen habe Drogen zu nehmen bin ich den ganzen Tag auf der Straße geblieben,  dann bin ich nach Hause gegangen. Am Schluss bin ich ganz auf der Straße geblieben. Am Anfang habe ich meine Familie vermisst, ich habe jede Nacht geweint, aber irgendwann bin ich total abgestürzt auf der Straße und habe gar nicht mehr an meine Familie gedacht.

Ich war einmal bei einer Messe im Zentrum von Fortaleza, die nur für Leute von der Straße gehalten wurde, seitdem habe ich über Jesus nachgedacht. Auf der Straße gibt es Suppenküchen und Essensausgabe von Evangelikern (=christliche Gruppierung). Sie geben allen Mahlzeiten, die nichts zu essen haben.

Einmal war ich im Stadtteil „José Walter“. Meine Freunde und ich sind über den Zaun auf das Gelände gesprungen, um uns Mangos zu holen. Als wir alle drin waren kam ein Wachmann angerannt, hat uns angeschrien und beschimpft, dann hat er geschossen. Ich wollte über den Zaun klettern und abhauen, aber ich bin abgerutscht. Meine Freunde haben es über den Zaun geschafft. Plötzlich habe ich Schüsse gehört peng, peng,peng! Ich dachte ich wäre getroffen worden. Ich bin ängstlich zur Seite gesprungen, habe mir an den Kopf gefasst und zu Gott gebetet, dass er mich nicht sterben lässt. Die Kugel hat mein Bein gestreift. Als ich an mir heruntergeschaut habe, habe ich gesehen, dass überall Blut war, da habe ich Angst gekriegt. Als das Auto ankam, habe ich mein Bein abgetastet und gemerkt, dass es nur ein Streifschuss war. Ich habe mein Hemd ausgezogen, es zerrissen und um die Wunde gebunden. Später kamen sie zum Gelände und haben dem alten Mann seine Waffe weggenommen.

Einer Freundin von mir ist auch schon ins Bein geschossen worden. Ein Mann ging an uns vorbei, hat uns unseren Kleber weggenommen und über eine Mauer geworfen. Wir sind über die Mauer gesprungen, um den Kleber wiederzuholen. Mein Bein war noch immer verletzt und tat weh. Auf einmal kam ein Wachmann auf einem Motorrad angefahren. Er hat geschossen peng, peng, peng! Wir sind alle weggerannt. Ich bin gerannt, mein Bein hat sehr weh getan. Als wir endlich am Zaun waren hat meine Freundin ihr Bein durch die Drähte geschoben. Der Schuss hat sie genau ins Bein getroffen. Sie hat es nicht mal bemerkt. Sie ist einfach weiter gelaufen. Ich habe gesehen, dass ihr Bein blutete. Mein Bein hat auch wieder angefangen zu bluten. Die Wunde von meinem Streifschuss war noch frisch. Durch das schnelle Laufen ist meine Wunde wieder aufgeplatzt. Ich dachte zuerst, mein Blut sei auf ihr Bein gespritzt. Ich habe ihr gesagt, dass es nur mein Blut ist. Sie ist stehen geblieben, hat sich ans Bein gefasst. In dem Moment hat sie geschrien, dass sie angeschossen worden ist und ist auf den Boden gefallen. Später ist sie vom Krankenwagen weggebracht worden. Der Wachmann hatte gedacht, dass wir etwas klauen wollten.

Ich war schon für 45 Tage in der „FEBEM“.  Ich war damals sehr wütend, ich wollte nur klauen. Es kam eine Frau an mir vorbei gelaufen. Sie ist abgebogen; ich und ein anderer Junge sind hinter ihr hergegangen. Da kam die Polizei, der andere Junge ist weggerannt, ich bin stehen geblieben. Sie haben mich mitgenommen, weil sie dachten, ich wollte die Frau ausrauben. Sie haben auf mich eingeschlagen, mich in das Polizeiauto geworfen und zur „DCA“ („Delegacia da criança e do adolescente“= staatliche Einrichtung zum Schutz der Rechte der Kinder und Jugendlichen)  gefahren.

Als ich in der „FEBEM“ ankam habe ich gesehen, wie ein Kerl auf einen Jungen eingeschlagen hat, der hat geschrien. Sie haben ihn an den Füßen gefesselt und ihn hin und hergezogen. Als ich dort neu war habe ich versucht, mich mit den Jungs anzufreunden. Ich habe mit ihnen Fußball gespielt. Meine Mutter kam dort hin, hat etwas unterschrieben und ich konnte gehen. Aber ich bin wieder auf die Straße gegangen und meine Mutter ist immer wieder dorthin gegangen und hat unterschrieben.

Ich habe mir den Namen meiner Mutter eintätowieren lassen. Sie wollte das, damit ich sie nicht vergesse. Immer wenn ich meine Tätowierung gesehen habe, habe ich an meine Mutter gedacht und musste weinen.

Auf der Straße habe ich meine kleine Schwester sehr vermisst. Als ich einmal wieder von daheim weggegangen bin, ist sie sogar krank geworden, weil sie so große Sehnsucht nach mir hatte. Sie war sehr traurig, weil ich auf der Straße war und nicht mehr nach Hause gekommen bin, um mit ihr zu spielen. Meine Mutter hat den „amarelinhos“ (= Sozialarbeiter, die sich um die Straßenkinder von Fortaleza kümmern) gesagt, dass meine Schwester krank sei. Da bin ich nach Hause gefahren, nur um sie zu besuchen. Danach bin ich aber wieder zurück auf die Straße gegangen. Ich habe auch versucht, nicht mehr auf die Straße zu gehen. Ich habe zu Hause mit meinen Freunden gespielt. Aber ich habe zusammen mit einem Freund Süßigkeiten in den Busterminals verkauft. Dann bin ich eines Tages nicht mehr nach Hause zurück gekommen.

Mir hat es auf der Straße gefallen. Ich hatte mich bereits total daran gewöhnt, hatte auch viele Freunde dort. Heute weiß ich aber, dass die Straße nicht gut für mich war. Früher dachte ich, dass die Freiheit und die Freunde dort gut für mich sind. Ich habe aber gemerkt, dass diese Freunde nichts für mich waren. Ich habe so viel gelitten. Wir konnten nirgendwohin gehen. Alle haben uns immer gleich verscheucht.

Einmal kamen drei Typen auf Motorrädern, sie waren alle schwarz angezogen. Sie haben sich einige Jungs geschnappt, alle die sie erwischt haben wurden von denen gezwungen, sich auszuziehen und auf  Knien rumzurutschen. Alle haben zugeschaut, auch die Taxifahrer. Sie haben das mit allen gemacht, die nicht schnell genug abgehauen sind.

Im Busbahnhof haben die Wachleute uns oft Motorradreifen auf den Kopf geworfen und gesagt, wir sollten aufstehen und uns dort nicht mehr blicken lassen. Im Zentrum haben uns die Wachleute nie vor den Geschäften schlafen lassen, weil die Läden früh aufmachen. Wir haben da immer gestört, alles dreckig gemacht. Ich schlief nie mehrmals am gleichen Ort, ich musste mir jede Nacht einen neuen Schlafplatz suchen. Egal wo ich schlief, die Wachmänner haben mich immer vertrieben. Wenn ich irgendwo alleine schlief haben mir die Leute morgends gesagt, ich soll meine Pappe wegräumen. Dann haben sie gesagt, dass sie mich nie mehr sehen wollen.

Auf der Straße fand ich die Gewalt und die Polizei am schlimmsten. Wenn ich schlafen gegangen bin habe ich immer sehr gefroren. Auf der Straße leben zerstört die eigene Zukunft.  Man lernt zwar einiges aber wenn man auf der Straße bleibt hat man absolut keine Chance. Wenn man groß ist, wird man nichts im Leben erreichen. Das ist mir klar geworden, als ich die anderen auf der Straße gesehen habe. Sie waren immer auf der Suche nach irgendeiner Arbeit. Ich habe gesehen, wie schwer es war. Überall müssen diese Leute in der sengenden Hitze arbeiten. Das ist keine gute Arbeit. Dann habe ich gedacht, dass ich nach Hause gehe und meine Mutter bitte, zu arbeiten wenn ich älter als 18 Jahre alt werde… Ehrlich gesagt, wenn man mit 15 Jahren noch auf der Straße ist, ist das Leben schon vorbei. Da wird man ein richtiger Verbrecher, klaut, prügelt sich, wird angeschossen und landet im Gefängnis. Das endet nie gut. Mein Bruder hat es nicht geschafft, er ist mit 18 Jahren noch auf der Straße. Jetzt arbeitet er als Müllsammler.

Eines Tages musste ich an meine Mutter denken, an alles was sie durchgemacht hatte. Dann habe ich es geschafft, nach Hause zu fahren. Am nächsten Tag habe ich meiner Mutter gesagt, dass ich in ein Heim ziehen will, damit ich etwas lernen kann. Nur so hatte ich die Chance, ein neues Leben anzufangen. Nach 9 Monaten auf der Straße bin ich nach Hause zurückgegangen und habe meine Mutter gebeten, mir einen Ort zu suchen, wo ich wohnen kann. Das Leben auf der Straße lohnt sich nicht. Ich will etwas lernen, arbeiten. Ich will Polizist werden. Ich werde nichts Schlechtes tun, ich werde nur Gutes tun.

Jetzt bin ich im „Nazarenerdorf“ und hier gefällt es mir sehr gut. Hier gibt es Aktivitäten, ich spiele Fußball. Es ist viel besser hier als auf der Straße. Auf der Straße hatte ich keinen Schlafplatz. Ich schlief im Regen. Wenn ich aufwachte sah ich oft direkt vor meinem Gesicht einen Motorradreifen von dem Wachmann. Um sich etwas zu essen zu besorgen musste man sich absolut erniedrigen lassen. Ich bin viel geschlagen worden, musste vor der Polizei wegrennen, weil die uns auch verprügelt hat. Morgends habe ich unter dem Vordach von Geschäften geschlafen. Wir sind oft geschlagen worden, wenn sie dachten, wir hatten was geklaut. Ich habe so viel gelitten; dann habe ich an Gott gedacht. Ich habe es geschafft, an einen besseren Ort zu gehen. Als ich nach Hause zurück kam weinte meine Mutter. Sie hat sich hingekniet, Gott gedankt, und mich gebeten, nie wieder auf die Straße zu gehen. Jetzt fühle ich mich besser, ich spucke kein Blut mehr. Früher hatte ich sogar Probleme beim Urinieren. Ich spürte, dass mein Körper immer schwächer wurde. Ich war dünn. Ich bestand nur aus Haut und Knochen. Jetzt nicht mehr. Hier lerne ich viel. Ich lerne gerade lesen. Meine Lehrerin hat mir das Buchstabieren beigebracht. Ich hatte ganz verfaulte Zähne, weil ich so viel geraucht habe. Der „tio“ (Erzieher im „Nazarenerdorf“) hat gesagt, er wird mich zum Zahnarzt bringen.

Ich will Polizist werden. Ich möchte was für meine Zukunft tun. Ich bin bereit für eine bessere Zukunft. Ich will meiner Mutter helfen, ihr einen guten Job besorgen, vielleicht als Hausmädchen, dann würde sie ein bisschen was verdienen. Und ich werde es schaffen, diesen Traum zu verwirklichen, so Gott will.

         

Veröffentlicht am 26.März 2009 um 14:14 im Straßenblog unter der Kategorie Barfuß in Brasilien

Kommentare

Der Straßen-Blog wurde ab 2006 von VAJA-Mitarbeiter/innen (und Jugendlichen) genutzt, um über Erlebnisse und Anekdoten aus dem Alltag und von der Straße zu berichten. Später wurden derartige Inhalte auf der entstandenen VAJA-facebook-Seite gepostet und der Straßen-Blog nur noch sporadisch verwendet. Dennoch halten wir ihn im Rahmen unseres Archivs gerne zum Stöbern aufrecht. Wir freuen uns aber auch, wenn Ihr auf unserer facebook-Seite vorbei schaut!


 

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Hallo, ich muss sagen diese „wahre“ Geschichte hat mich sehr traurig gemacht. Ich weiss das die Welt schlecht ist aber das die Menschen um uns herum auch immer mehr an „MENSCHLICHKEIT“ verlieren macht mich um so trauriger. Ich wünschte es würde endlich Frieden herrschen auf dieser Welt aber solange das Böse diese Welt regiert müssen wir noch warten….Warst du persönlich dort Wiebke? Ich glaube hätte nur noch geweint:( Ich finde es gut das du die Leute/mich daran erinnerst wie gut es uns doch geht und wir nicht immer rummeckern sollten und uns mehr für unsere Mitmenschen kümmern. Lieben Gruß Esmeralda

Liebe Esmeralda
Danke für deinen Kommentar.
Schön mal ein Feedback auf die Geschichte zu bekommen. Diese Geschichte ist leider wahr und stammt von einem Jungen aus Fortaleza, den ich dort in einem Dorf für Strassenkinder betreut habe. Ich war 2006/2007 für ein Jahr dort und habe die Arbeit im Dorf „Der kleine Nazareno“ unterstützt. Das ist auch nur ein Schicksal von ganz vielen.
Aber ich denke, dass man eigentlich auch gar nicht weit fahren muss, um ähnliche Zustände vorzufinden. Denn auch hier in Deutschland gibt es viel Elend und Armut und das sollte man sich immer wieder vor Augen halten.
Ich war 2008 und 2009 noch einmal für jeweils 4 Wochen vor Ort und habe Spenden für die Organisation mitgebracht, die mir liebe Leute aus Deutschland (unter anderem meine lieben Kollegen von VAJA) mitgegeben haben oder die ich durch Partys eingenommen habe.
Ich habe jetzt gerade selbst ein Kind bekommen und kann deswegen erstmal nicht mehr nach Brasilien fahren…schade, schade…
Vielleicht hast du ja Lust dir mal die Homepage vom „Kleinen Nazareno“ anzugucken http://www.nazareno.de.
Oder sonst lies doch auch mal die anderen Geschichten aus der Rubrik „Barfuss in Brasilien“.
Wo kommst du denn eigentlich her?
Lieben Gruss Wiebke

Hi !
Ich bin zufällig auf Deinen Blog hier gestoßen und musste mir die traurige, aber fesselnde Geschichte natürlich durchlesen. Ich bin Halbbrasilianerin müttlerlicherseits und war als Kleinkind oft in Brasilien. Allerdings in Caponga und Canindé hauptsächlich. Schon damals als Kind fand ich den Kontrast sehr krass, also wie mein Tagesablauf in Deutschland aussah und was die Kids in Brasilien, im selben Alter, machen mussten. Ich habe einen Cousin,auf den die Beschreibung recht gut passen würde. Er lebt auch mehr auf der Straße, anstatt zu Hause und nimmt Drogen und lässt die Schule sausen. Er tut meiner Tante sehr weh und hat schon oft für Sorgen und Streit in der Familie gesorgt, da alle einfach unglaublich Angst haben um ihn, aber er ist 23 und hört leider nicht mehr so gut, wie er es vllt. damals getan hätte. Ich hoffe er findet auch irgendwann noch zu sich, wie der Junge in Deinem Bericht. Liebe Grüße :)