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Eriswaldo

Eriswaldo auf der StrasseIhr lieben da draussen, ich schreib euch Zeilen aus Gold… … ich habe mal wieder einiges auf Tasch, werde aber versuchen, mich am Riemen zu reissen, damit ihr auch in eurer Mittagspause (?) oder was auch immer, Zeit habt, meine mail zu lessen… .Es ist 6.24 in der Frueh, ich sitze in der WG, am Fenster mit dem grossen Loch, und trinke einen Kaffee mit Suessstoff (muss gerade noch meinen Magen schohnen, von Olinda). Mit Zimt. Ein kleines Gefuehl von Zuhause, denn hier beginnt jetzt gerade die kalte Jahreszeit mit unfassbar viel Regen (eigentlich muesste Nordbrasilien laengst ueberschwemmt sein, nach meinen Berechnungen) und zum Teil gemeinen 23 Grad.

Ja ihr Lieben, das nennt man dann hier kalt und ich bin mittlerweile tatsaechlich schon so eingestellt, das ich heute nacht gefroren habe… .das wird noch ein boeses Ende nehmen, wenn ich wieder in Deutschland bin… da muss ich dann wahrscheinlich erst mal in eine Waermekammer gesteckt werden um mich wieder zu klimatisieren… So siehts hier also aus… .aber jetzt zu meinen Kindern:

Ein kleiner Junge, mit dem Namen Eriswaldo hat es geschafft und mir ein kleines Stueck Herz rausgerissen… Anfangs dachte ich noch, ich bring eben einen Strassenjungen zum Busterminal, kaufe ihm ein Ticket nach Hause, hau wieder ab und aus! Aber irgendwie ist alles anders gekommen… Mit Freunden am LagoaEriswaldo ist der Junge, den ich damals, als Bernardo uns am Flughafen hat stehen lassen, am Siqueira getroffen habe und der uns das „Gesindel” vom Hals gehalten hat. Ich kenne Eriswaldo bereits vom Lagoa und schon da habe ich mich immer tierisch gefreut ihn zu sehen. Bei manchen Kindern hier, hat man das einfach: die sieht man und irgendwas geht bei einem innerlich ab… .So war es eben auch bei Eriswaldo. Seit der besagten Nacht, habe ich tatsaechlich immer wenn ich entweder in die Stadt reingefahren bin oder wenn ich zurueck vom Zentrum ins sitio gefahren bin, am Terminal Eriswaldo getroffen. Wir haben uns dann jedesmal unterhalten, und ich habe ihn als ziemlich intelligent eingeschaetzt. Vor allem war er nie so angeschaengelt, wie einige andere Kinder. Eriswaldo hat immer uber beide Backen gegrinst, wenn ich ihn getroffen habe doch im Laufe des Gespraechs, merkte man immer mehr, wie traurig und einsam er eigentlich ist… .nicht an dem was er sagte, sondern einfach an seinem Gesicht und wenn er traurig wurde, ist er dann ganz ploetzlich gegangen… Eriswaldo war irgendwie immer so ein bischen mein kleiner Schutzengel vom Siquiera. … .Letzte Woche hat sich das ganze dann umgekehrt… ..Ich habe ihn vorletzte Woche malwieder dort getroffen und er hat mir erzaehlt, er will jetzt bald zu seiner Mutter fahren, sobald er die 42 Reais fuer die Busfahrt zusammen hat. Soweit ich spaeter von den Strassenarbeitern am Siquiera gehoert habe, erzaehlt er das jetzt auch schon seit langem, hat sein erbetteltes Geld aber natuerlich immer sofort in andere Dinge investiert.Da ich wusste das er es niemals schaffen wuerde, dieses Geld zusammenzusparen, habe ich in dem Moment nicht lange gefackelt und gesagt, das wir uns die naechste Woche (also letzte Woche) am Dienstag um Eriswaldo beim schnueffeln10.00 am Siquiera treffen, ich ihn zur Rodoviaria bringe (Busbahnhof), und ihm das Ticket kaufe. So richtig glauben wollte er es noch nicht und hat mich jedesmal, wenn wir uns wieder dort getroffen haben gefragt, ob ich mir gemerkt habe, das wir am Dienstag um 10.00 verabredet sind. Ich selber wollte aber auch noch nicht ganz glauben, das er kommt… .. Am Dienstag um 10.00 war ich puenktlich da und nicht nur er, sondern drei andere Jungs und 2 Sozialarbeiter haben mich schon sehnsuechtig erwartet. Die beiden Sozialarbeiter meinten dann ganz gluecklich, das sie schon lange hoffen, das jemand Eriswaldo zu seiner Mutter bringt. Und die Jungs sind ganz aufgeregt um mich rumgesprungen, ob das denn wirklich wahr ist, das Ersiwaldo jetzt endlich zu seiner Mama kann… ..Da wurde mir so langsam die Tragweite meines Handelns bewusst. Wir beide sind dann erstmal in die Favela gefahren, wo er seine Sachen bei seinem Vater und seiner Stiefmutter hat. In dem Haus, mit 3 Zimmern, leben 14 Personen. Vorne am Eingan lag seine kranke verwirrte Ur-Oma, die niemanden mehr erkannt hat, in der Haengematte, und wollte staendig aufstehen und rausgehen und hat immer alle 100 mal gefragt, wer sie denn sind. Der Vater war krank und konnte kaum noch laufen (schien aber auch dem Alkohol ganz offensichtlich nicht wirklich abgeneigt). Ich habe mich dann lange mit der Stiefmutter Vina unterhalten, die ich von anfang an total sympathisch fand. Die hat mir dann auch die Geschichte von Eriswaldo erzaehlt. Eriswaldo hat lange mit seiner Mutter und seiner Schwester in Bahia gelebt. Die sind dann aber nach 7 Jahren wieder zurueck nach Fortaleza.
Dort ist Eriswaldo erst noch zur Schule gegangen und alles war gut. Bis irgendwann die 2 jaehrige Schwester von Eriswaldo abhanden gekommen ist, und bis heute weiss kein Mensch, wo sie ist ( das muss man sich mal vorstellen… ..). Das war vor 2 ½ Jahren. Ausserdem musste seine Mutter dann wegen bewaffnetem Rauueberfall ins Gefaengnis und ist danach in eine andere Stadt gezogen, die 7 Std mit dem Bus von Fortaleza entfernt ist und so hat er seine Mutter seit 2 ½ Jahren nicht mehr gesehen. Vor 2 Jahren ist er dann auf die Strasse und hat extreme viele Drogen konsumiert. Fuer 3 Monate ist er ganz verschwunden, und dann hat er sich zumindest ab und zu mal zuhause gemeldet. So sass ich dann da in dem „Haus” in der Favela, vor mir ein Stuhl mit einem Brot und Margarine und einem voellige versuessten Kaffee… .und im Laufe des Gespraechs wurde mir bewusst, wo ich hier eigentlich sitze. Vina erzaehlte mir dann neaemlich so ganz beilaeufig, das sie sich sorgen um Eriswaldo macht, weil hier in der Favela woechentlich Leute ermordet werden, und gerade letztes Wochenende seien 2 Jugendliche, Freunde von Eriswaldo, erschossen im Fluss gefunden worden. Es wuerde dabei meistens um Drogen gehen… ..Mir wurde in dem Moment klar, das ich in Fortalezas „City of god”-Favela sitze, der gefaehrlichsten Favela hier in der es vor allem um Drogengeschaefte geht. Das war merkwuerdig: Ich hab dann einen kurzen Moment gedacht, jetzt musste du dich ja eigentlich irgendwie anders fuehlen… .vielleicht Angst haben… ? Und hab so ueberlegt, was ich gedacht habe, als ich den Film gesehen habe, wie das so ist, wenn man in Wirklichkeit in so einem Haus in so einer Favela sitzt… .und ich muss irgendwie tatsaechlich enttaeuschen, ich hab einfach nur in einem Haus bei einer Familie in der Favela gesessen. Mehr war nicht dabei… .nagut, ich haette nicht gerne alleine zurueck zur Buhaltestelle gehen moegen, aber sonst… .Ich weiss es nicht, ob ich da schon zu tough bin… ?
Ob andere das anders sehen… .aber so wars… reichlich unspaektakulaer. Fuer mich waren hier eher die Menschen interessant, die Geschichte dieser Menschen… .und vor allem kamen immer mal wieder Nachbarn an die Tuer (Tuer heist hier Salontuer, also halbe Tuer) und haben sich immer ganz freundlich und interessiert nach mir erkundigt. Interessant war natuerlich fuer alle, das ich aus dem Land komme, in der die letzte WM war. Als Vina dann zu mir meinte, alle Menschen aus Deutschland sind schoen, sie haette „noch nie einen haesslichen Deutschen gesehen” wurde mir aber schon klar, das sie nur wenig ueber Deutschland wissen… (tschuldigung)… ! Die Oma von Eriswaldo musste dann noch los in seine alte Schule und seine kopierte Geburtsurkunde besorgen, weil er sonst keine Dokumente gehabt haette. So bin ich dann spaeter mit Vina und einem geduschten (wurde auch zeit) Eriswaldo und Sack und Pack los zur Rodoviaria. Wir waren um 13.00 Uhr da, und der Bus fuhr erst um 19.00 Uhr… .was nun? Ich bin dann noch eben schnell zur Strassenarbeit und Vina wollte mit ihm dort warten und sich spaeter von der Oma abloesen lassen. Ich habe noch schnell mit den beiden einen Kaffee getrunken und versprochen spaeter mit wiederzukommen. Waehrend des Kaffees hat Vina Eriswaldo erst mal zugetextetet, das Gott mich geschickt haette, und wie dankbar er sein muesste und blabla… ich merkte, das ihm das immer unangenehmer wurde und hab dann irgendwann nett aber bestimmt gesagt: Ich denke, er weiss das!”. Ob das nun Gott war, ist vielleicht auch noch eine andere Frage… . So bin ich dann schnell zur Strassenarbeit, an dem Tag gabs Fussball mit der Funcie in der nahegelegenen Quadra. Ich war aber irgendwie ueberhaupt nicht anwesend, weil ich die ganze Zeit Angst hatte, das doch noch irgendwas dazwischen kommt und Eriswaldo nicht mehr am Busbahnhof steht, wenn ich komme… .Bin nach dem Lagoa schnell nach Hause (duschen ist nach der Strassenarbeit erste Pflicht, bei soviel Koerperkontakt… man moechte meinen, die Bakterien sind bereits mit dem blossen Auge zu erkennen… .), hab noch eine Provianttuete fertig gemacht und bin los. Man, war ich erleichtert, als ich Eriswaldo und seine Oma dort sitzen sehen habe. Die waren doch nochmal nach Hause zurueck und haben Eriswaldo die Haare geschnitten. Eriswaldo mit OemchenSo sassen wir dann da zu dritt und haben gewartet. Eriswaldo wurde immer aufgeregter und mir wurde auch ganz komisch. Um 18.30 sind wir dann runter zum Bus.
Dort hat mir Eriswaldo noch ganz viel ueber seine Familie die dort lebt erzaehlt. Ueber seine Schwester, die 19 ist und schon 2 Kinder hat, sein Bruder, der 23 ist und schon drei Kinder hat… ..als ich ihm dann gesagt habe, das ich alles versuchen werde um ihn dort zu besuchen (der Wunsch wurde ueber den Tag immer staerker), hat er ueber beide Backen gegrinst. Irgendwann musste er in den Bus einsteigen und er hat mich am Ende ganz fest in den Arm genommen und nur gesagt „meu anjo” (mein Engel) ich kam mir vor wie in einem kitschigen Film, fehlten nur noch die Geigen und Harfen und ich merkte bereits, das ein Stueck aus meinem Herz dabei war sich zu loesen. Oemchen und ich standen dann dort, Arm in Arm und wareteten, bis die Tuer zu ging. Irgendwann ging die Tuer zu und der Bus fuhr los und ich merkte ganz eindeutig, das ein Strueck meines Herzens in diesem Bus mitfuhr… .Ich waere am liebsten schreiend hinterhergelaufen… .ich glaube dieses Gefuehl ist so schwer erklaerbar, es ist einfach da und geht auch erst mal nicht wieder weg. Ich habe die naechste 2 Naechte von Eriswaldo getraeumt und auch jetzt noch habe ich ganz schoen zu knabbern. Vor allem hatten wir gerade erst angefangen eine Beziehung zueinander aufzubauen und ploetzlich ging alles so furchtbar schnell, und er war nicht mehr da.Dieser kleine zarte Junge sitzt einfach ganz tief in mir drin und bleibt da einfach ganz dreist sitzen… . Ich bin fuer heute abend verabredet, um mit ihm zu telefonieren. Ich hoffe alles ist gut… seine Mutter hat ihn nachts um 3.00 Uhr von der Rodoviaria abgeholt… .die beiden haben sich nach 2 Jahren das erste mal wieder gesehen… .ich haette sooooo gerne Maeuschen gespielt… .. Fuer Eriswaldo ist das wahrscheinlich die einzige Chance, in der Kleinstadt von den Drogen und dem schlechten Einfluss wegzukommen… fremdplatzierung nennt man das glaube ich bei uns… . Ich bin natuerlich wieder eingeladen in die Favela zu der Familie von Eriswaldo… da lass ich mich aber vom Bus abholen… .besser is… .Auf dem Weg zum Bus Jaaaaaa ihr Lieben, diese Geschichte, aber auch alle anderen Kinder am Lagoa und im sitio haben mich zu dem Entschluss gebracht, nicht im April das Land zu verlassen, sondern einfach noch so lange es geht (2 bis 3 Monate ab April) hier zu bleiben. Das heist fuer mich einen fetten Aerger an der Grenze und Geld bezahlen… wobei es dabei wohl auch noch auf mich selbst und meine Geschichte ankommt, wieviel ich letzendlich blechen muss. Aber ich habe einfach zuviel Angst, das die mich nicht wieder reinlassen… wer weiss, dieser Entschluss kann sich natuerlich noch aendern, wenn mir ploetzlich jemand erzaehlt, das es ganz einfach ist zurueckzukommen, aber jetzt lebe ich erstmal mit diesem Entschluss. Vor allem kommt es letztendlich billiger, als die andere Version.

Trotzdem werde ich am Ende nach Argentinien ruebermachen.

1. weil ich noch nicht so schnell nach Hause will und
2. weil Buenes Aires cool sein soll und
3. weil die Grenzuebergaenge dort unten besser zum verhandeln sind. Und
4. weil ich unbedingt noch nach Sao Paulo will… ..wird schon werden…

Veröffentlicht am 9.Mai 2007 um 00:07 im Straßenblog unter der Kategorie Barfuß in Brasilien

Kommentare

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wow ich hab mir den text einfach mal so durch gelesen und ich muss sagen i-wie ist es sehr traurig das kids in so einer gegend leben…aber ich finde es auch süss wie du versuchst dieses gefühl zu beschreiben wo er gefahren ist :)
gruß truLa

Liebe Trulla
Danke fuer deinen Kommentar, endlich hab ich mal das gefuehl, das jemand auch den ganzen batzen liest, den ich da immer so in den Blog reinstelle. Und vor allem find ich es super, das du dich fuer die Kinder interessierst. das machen nicht viele………weiter so!!!!
Ganz liebe gruesse aus Brasilien.
Vipika

Wiebke-Hase,
ich hoffe, Du hast meiner letzten Mail entnommen, dass es auch andere gibt, die Deine Blog-Einträge lesen. Und dabei spreche ich nicht nur für mich: Im VAJA-Büro sind Deine Erlebnisse schon hin und wieder mal Thema! Auch wenn zugegebenermaßen eine Mittagspause für eine Deiner Stories in „Standardlänge“ nicht immer ausreicht ;-)

Aber recht so: Mach den KollegeInnen ruhig mal ein bisschen Feuer unterm Arsch – ich würde auch lieber noch mehr Einträge und Kommentare im Blog lesen.

Zu guter Letzt: Die Eriswaldo-Geschichte hat mich ähnlich ergriffen wie Trula. Besonders Deine Art, es in Worte zu fassen. Planst Du eigentlich nach Deiner Rückkehr eine Buchveröffentlichung? Solltest Du mal drüber nachdenken!

Liebe Grüße and die Barfüßige & ich freu mich, Dich bald wiederzusehen!

Danke Dennis du Sahneschnitte. Und was ich mich erst freue euch alle wiederzusehen….Aber noch bin ich hier…und das ist auch gut so! Ganz viel Liebe erreicht euch aus Brasilien direkt ins VAJA-Buero (mit dem blauen Teppich) ;)

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